Baden-Württemberg

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25 Jahre Vertrag von Lugano zum grenzüberschreitenden Eisenbahnausbau

Der Vertrag von Lugano legt laut VCD die Misere der deutschen Eisenbahnpolitik offen: Außer Ankündigungen nichts realisiert. 25 Jahre nach dem Vertrag von Lugano zeigt sich die ganze Misere der deutschen Eisenbahnpolitik, stellt der VCD Baden-Württemberg fest. „Ziel des Vertrages war, die Rheintalbahn viergleisig auszubauen. Damit sollte Güterverkehr von der Straße auf die Schiene verlagert werden. Außerdem sollte die Strecken Stuttgart – Zürich und München – Zürich für den Personenverkehr beschleunigt werden“, beschreibt VCD-Landesvorsitzender Matthias Lieb die damaligen Vertragsziele.

25 Jahre Vertrag von Lugano zum grenzüberschreitenden Eisenbahnausbau zwischen Deutschland und der Schweiz – eine Bilanz aus Sicht des VCD Baden-Württemberg – von Matthias Lieb

Am 6. September 1996 wurde zwischen Deutschland und der Schweiz vereinbart, dass drei grenzüberschreitende Eisenbahnstrecken von Deutschland Richtung Schweiz als leistungsfähige Zulaufstrecken zu den Neuen Eisenbahn-Alpentransversalen (NEAT) in der Schweiz ausgebaut werden sollen. Unterzeichner des Vertrags von Lugano waren damals Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann und Moritz Leuenberger, Vorsteher des Eidgenössischen Verkehrs- und Energiedepartments.

Geplant war auf deutscher Seite der viergleisige Ausbau der Rheintalbahn, eine Fahrzeitverkürzung auf der Gäubahn von damals 3:05 h auf 2:15 h und auf der Strecke München – Zürich von damals 4:10 h auf 3:30 h – jeweils beim Einsatz von Neigetechnikfahrzeugen.

Ende August 2021 wurde nun ein Nachfolgevertrag abgeschlossen. Ein guter Anlass, Bilanz zu ziehen:

Rheintalbahn:
Hauptgrund für den Vertragsabschluss war das Interesse der Schweiz, sicherzustellen, dass die teuren Alpentunnel für den Eisenbahnverkehr (Gotthard- und Lötschbergbasistunnel, NEAT) auch ausreichende Zulaufstrecken in Deutschland bekommen. An erster Stelle steht da die Haupt-Güterzugstrecke durch das Rheintal als Teil des Transeuropäischen Korridors „Rhein – Alpen“ von Holland bis Genua.

Doch bei der Rheintalbahn kommt der Ausbau nicht voran. Zwar wurde mit der Einführung der Hochleistungsblocks (CIR-ELKE) ab 1995 die Leistungsfähigkeit auf der bestehenden Strecke erhöht. Doch erst ca. 2035 soll der durchgehend viergleisige Ausbau abgeschlossen sein – 48 Jahre nach Baubeginn im Jahr 1987. Zum Vergleich: der erstmalige Bahnbau von Karlsruhe bis Basel als zweigleisige Hauptstrecke erfolgte von 1844 – 1855 in elf Jahren. 

1996 war der viergleisige Ausbau zwischen Rastatt und Offenburg schon neun Jahre im Bau – die Fertigstellung dieses Teilabschnittes erfolgte 2004. Damit waren innerhalb von 17 Jahren 44 Streckenkilometer viergleisig fertiggestellt worden. Hauptgrund für die lange Bauzeit war die zeitweise geringe Mittelzuweisung aus dem Bundeshaushalt. Zum Vergleich wurde der sechsspurige Bundesautobahnausbau von Baden-Baden bis Offenburg (41,5 km) innerhalb von 5 Jahren realisiert.

Bis 2008 wurde der Abschnitt um den Katzenbergtunnel ausgebaut. 34 Jahre nach Baubeginn sind somit von 182 Kilometern Gesamtstrecke gerade mal 61 Kilometer - rund ein Drittel - viergleisig ausgebaut in Betrieb.  Tatsächlich wären schon weitere 16 Kilometer fertiggestellt, wenn nicht 2017 die Tunnelbaustelle in Rastatt eingestürzt wäre. Hierdurch wurde das Projekt an dieser Stelle um rund 5 Jahre verzögert.

Die baden-württembergische Landespolitik setzte in der ersten Hälfte der Vertragslaufzeit nicht auf den volkswirtschaftlich sinnvollen Ausbau der Rheintalbahn, sondern wollte vorrangig das Projekt Stuttgart 21 mit der Schnellfahrstrecke nach Ulm realisieren. Mit dem Einsatz von zusätzlichen Landesmitteln für S21 und die Schnellfahrstrecke nach Ulm gelang dies auch. Man war der Ansicht, dass die Rheintalbahn aufgrund des Vertrages von Lugano sowieso käme. Doch tatsächlich hat das Vorziehen von Stuttgart 21 die Finanzierung des Rheintalbahn-Ausbaus verzögert. So wurden im Jahr 2012 aus dem Bundeshaushalt nur 20 Mio. für die Rheintalbahn aufgewandt, aber 56 Mio. € für S21. 

Gemäß dem BVWP2030 sind noch rund 6,4 Mrd. € für den Ausbau der Rheintalbahn zu investieren. Im Entwurf des Bundeshaushalts 2022 sind immerhin Investitionsmittel in Höhe von 173 Mio. € für die Rheintalbahn vorgesehen. Bei gleichbleibenden Investitionen würde diese immer noch eine ausstehende Bauzeit von weiteren 37 Jahren bedeuten. Dies zeigt, dass immer noch pro Jahr viel zu wenig in die Rheintalbahn investiert wird. Zum Vergleich werden für das Bahnprojekt Stuttgart – Ulm im Jahr 2022 178 Mio. € aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt (ohne Mittel für den Digitalen Knoten Stuttgart).

Bürgerproteste
Mitte der 1990er Jahre gab es schon Pläne zur Reduzierung des Schienenverkehrslärms. Doch leider wurden diese Pläne aus Kostengründen nicht umgesetzt. Mit der Einführung von CIR-ELKE stieg die Zahl der Güterzüge deutlich an, besonders in den Nachtstunden. Die Planungen der DB sahen weiter
steigende Zugzahlen, den viergleisigen Ausbau durch die Ortslagen und hohe Lärmschutzwände vor. Diese Planung wurde vor Ort nicht akzeptiert.

Schon 2004 wurde intensiv darüber diskutiert, ob nicht besser eine autobahnparallele Trasse zwischen Offenburg und Freiburg weiterverfolgt werden sollte, um den Interessen der betroffenen Anwohner besser gerecht zu werden. Doch zunächst beharrten Bundestag und Bahn AG auf der Antragstrasse durch die Ortslagen. Erst nach den Erfahrungen mit Stuttgart 21 wurde 2009 von der Landesregierung ein Projektbeirat einberufen, der mit den Bürgerinitiativen vor Ort nach jahrelangen Diskussionen zu einer Verständigung kam. Im Jahr 2016 war dann auch der Bundestag bereit, auf die autobahnparallele Trasse umzuschwenken – ein Zeitverlust von 12 Jahren. Interessanterweise gab und gibt es beim Eisenbahnausbau massive Proteste der Bürger und Gemeinden – beim Autobahnausbau sind keine entsprechenden Proteste bekannt geworden. Dies dürfte daran liegen, dass die Bürger vor Ort beim Ausbau von Eisenbahnstrecken für den Güter- und ICE-Verkehr für sich keinen unmittelbaren Nutzen erkennen können – beim Ausbau einer Autobahnstrecke mit einer nicht weit entfernten Autobahnauffahrt schon eher.

Durch diese jahrelangen Verzögerungen beim Bau ist die Rheintalbahn inzwischen überlastet, einige Abschnitte wurden offiziell zum „überlasteten Schienenweg“ erklärt. Doch erst zwischen 2030 und 2035 soll diese Überlastung durch den viergleisigen Ausbau beseitigt werden. Das bedeutet, dass bis dahin auch keine Verbesserungen mehr im Nahverkehr vorgenommen werden können. In einer Region, die in Baden-Württemberg die höchste ÖV-Nutzung (Fahrten pro Einwohner und Jahr) aufweist, gibt es weiterhin keinen Halbstundentakt im Nahverkehr auf der Rheintalbahn. 

Gäubahn:
25 Jahre nach Vertragsschluss muss man feststellen, dass auf der Gäubahn in der ganzen Zeit keinerlei Streckenausbauten erfolgten. Der Einsatz von Neigetechnikfahrzeugen, mit denen die Fahrzeit Stuttgart – Zürich auf 2:37 h verkürzt werden konnte, wurde 2010 wieder aufgegeben. Aktuell beträgt die Fahrzeit 2:55 h und liegt damit wieder fast auf dem Niveau von 1996. Der Fahrzeitgewinn von 10 Minuten resultiert nur aus Streckenausbauten in der Schweiz und dem Einsatz spurtstärkerer Lokomotiven. Die Durchschnittsgeschwindigkeit von 82 km/h ist im Vergleich zur Fahrt auf der Autobahn an den Bodensee wenig konkurrenzfähig.

Beim Ausbau der Gäubahn lag das Interesse der Landespolitik viele Jahre überwiegend auf einer neuen Streckenführung zur Anbindung des Stuttgarter Flughafens. Eine Fahrzeitverkürzung auf 2:15 h hätte auch ein Auslassen von Unterwegshalten bedeutet, so dass ein solches Konzept vom

Interessenverband Gäu-Neckar-Bodensee-Bahn, der die Interessen der Anliegerkommunen bündelt, gar nicht unterstützt wurde. Aber auch die Bundespolitik hat sich für den Ausbau nicht weiter interessiert, obwohl mit dem langjährigen CDU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder ein politisches Schwergewicht aus der Region kam.

Im Investitionsrahmenplan 2011-2015 war der Abschnitt Horb-Neckarhausen (5 km) zur Realisierung vorgesehen (Baukosten 14 Mio. €). Tatsächlich gab es bis heute keinen Baubeginn.
Mit dem Ludwigsburger Verkehrs-Staatssekretär Steffen Bilger kam eine neue Idee, der Gäubahn- oder „Bilger“-Tunnel ins Gespräch – und die dauerhafte Abkehr von der Neigetechnik. Damit wurde der einzig planfestgestellte Bauabschnitt für fünf zusätzliche Kilometer Zweigleisigkeit in der Realisierung zunächst weiter verzögert – denn nur mit Neigetechnik bringt die Zweigleisigkeit an dieser Stelle einen sofort einsichtigen Nutzen. Nunmehr soll bis 2024 der zweigleisige Ausbau zwischen Horb und Neckarhausen erfolgen. Im Sommer 2023 wird dafür die Strecke für fünf Monate gesperrt werden. Für 2022 sieht der Entwurf des Bundeshaushaltes Investitionsmittel in Höhe von 7,7 Mio. € für die Gäubahn vor.

Der Gäubahntunnel befindet sich nun als Maßnahme im vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrs-wegeplans – die geplanten Ausbaumaßnahmen für die Gäubahn belaufen sich inzwischen auf 2,1 Mrd. €. Alle Maßnahmen des vordringlichen Bedarfs im Bundesverkehrswegeplan 2030 belaufen sich inzwischen auf rund 100 Mrd. €. Bei aktuell rund 2 Mrd. € jährlichem Etat für Neubaumaßnahmen aus dem Bundeshaushalt ist eine rasche Realisierung unsicherer denn je. Nach der Bundestagswahl müssten sich die Abgeordneten aus Baden-Württemberg sehr nachdrücklich für eine Umsetzung einsetzen, damit diese Maßnahme eine Chance auf eine zeitnahe Realisierung hat. Unabhängig davon droht ab 2025 der internationalen Verbindung in die Schweiz die Kappung im Stuttgarter Stadtgebiet. Denn auf Betreiben der Stadt Stuttgart soll die Strecke zum Hauptbahnhof dem Städtebau geopfert werden, ohne dass eine alternative Verbindung bereitsteht.
 

Allgäubahn:
Einzig auf der bayerischen Strecke München – Lindau erfolgte die Elektrifizierung bis 2020 – ab Dezember 2021 soll die Fahrzeit dann 3:31 h betragen – wie 1996 vereinbart. Für die Strecke Zürich – München wird damit eine Reisegeschwindigkeit von 94 km/h realisiert. Zum Einsatz kommen Neigetechnikzüge aus der Schweiz. Insgesamt wurden für den Streckenausbau rund 400 Mio. € aus dem Bundeshaushalt investiert. Auch die Schweiz hat sich mit einem rückzahlbaren Zuschuss von 75 Mio. Franken am Ausbau beteiligt.

Es fällt schon auf, dass das im Vertrag erst an dritter Stelle genannte Projekt München – Zürich als erstes und einziges entsprechend dem Planungsziel realisiert wurde, während die Projekte in Baden-Württemberg sich weitgehend durch Stillstand auszeichnen.

Neuer Vertrag 2021:
Der neue Vertrag betrachtet zusätzlich auch drei grenzüberschreitende Strecken in Baden-Württemberg: Die Südbahn Ulm – Friedrichshafen - Lindau - Romanshorn, die Hochrheinstrecke Basel – Singen und die Wiesentalbahn Basel – Lörrach – Zell.  Dies ist grundsätzlich zu begrüßen.

Doch die Zielsetzungen sind leider nur Absichtserklärungen ohne Zeitplan und im Gegensatz zu 1996 ohne konkrete Ziele. Vielmehr sollen die Ziele teilweise erst erarbeitet werden. So sollen u.a. die Voraussetzungen für bessere internationale Verbindungen, insbesondere für Nachtzüge, geschaffen werden. 1996 gab es noch zwei Nachtzüge nach Italien: nach Florenz und Rom sowie nach Bologna und Rimini, außerdem zwei EC-Züge tagsüber bis Mailand (Dortmund – Mailand und Hannover – Köln – Mailand). Heute gibt es keine Nachtzüge nach Italien mehr, obwohl die Fahrt von Mannheim nach Mailand heute im durchgehenden ECE 7 Stunden dauert. Fahrten von nördlich Mannheim bis südlich von Mailand sind somit ideal für eine Nachtzugfahrt geeignet. Tagsüber gibt es heute nur noch einen ECE Frankfurt – Mailand, auch hier deutlich weniger Vernetzung als 1996. Mit dem neuen Vertrag soll also das, was vor 25 Jahren noch bestanden hatte, wiederhergestellt werden. Das ist zwar zu begrüßen – zu hinterfragen ist jedoch, wieso trotz des bisherigen Vertrages die Verbindungen in den letzten 25 Jahren schlechter statt besser geworden. Angesichts dieser negativen Erfahrung bleibt nur zu hoffen, dass der neue Vertrag in Deutschland tatsächlich mit Leben erfüllt wird.

Fazit:
25 Jahre nach dem Vertrag von Lugano zeigt sich die ganze Misere der deutschen Eisenbahnpolitik. Von drei Ausbaustrecken wurde nur die im Vertrag an letzter Stelle genannte realisiert – zufällig diejenige, die Bayern liegt, der Heimat der langjährigen Bundesverkehrsminister. Die anderen beiden Strecken, obwohl zumindest die Rheintalbahn von hoher volkswirtschaftlicher Bedeutung ist, wurden vernachlässigt. Insbesondere bei der Rheintalbahn wurde der Baufortschritt jahrelang durch zu geringe Bundesmittel gebremst. Die zunächst ignorierte Berücksichtigung der Bürgerinteressen führte zu verlorenen Planungskosten und langjährigem Zeitverzug. Bei der Gäubahn wurden in 25 Jahren nur immer neue Planungen erstellt. Nach den jetzigen Planungen sind über 8 Mrd. € für die Realisierung von Rheintalbahn und Gäubahn erforderlich – angesichts der bundesweiten Projekte von rund 100 Mrd. € Volumen und derzeit nur 2 Mrd. € jährlichen Bundesmitteln für den Aus- und Neubau ist unbestimmter denn je, bis wann tatsächlich diese beiden für Baden-Württemberg wichtigen Projekte realisiert sein werden. Derzeit plant die Stadt Stuttgart sogar die Unterbrechung der Gäubahn in ihrem Stadtgebiet, so dass in den nächsten Jahren statt Verbesserungen ein weiterer Rückschritt in den Verbindungen zur Schweiz zu befürchten ist.

Stuttgart, 05.09.2021

Diplom-Wirtschaftsmathematiker Matthias Lieb
Landesvorsitzender VCD Baden-Württemberg e.V.
Tübinger Straße 15
70178 Stuttgart
matthias.lieb@vcd-bw.de
bw.vcd.org

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