Eine Haushaltsbefragung zum Mobilitätsverhalten der TübingerInnen aus dem Jahr 2007 ergab einen Radverkehrsanteil im Binnenverkehr von rund 23 Prozent. Zum Vergleich: Die Fahrradstadt Münster hat einen Radverkehrsanteil von 38, Stuttgart dagegen nur sechs Prozent.
Es mag die Vermutung nahe liegen, dass Tübingen schon damals besonders radfreundlich war und/oder der Radverkehr schon immer besonders gefördert wurde. Tatsächlich waren die äußeren Umstände zum Erhebungszeitpunkt aber vergleichsweise bescheiden. Weder war der städtische Etat für die Radförderung mit 150.000 Euro (2009) besonders hoch, noch begünstigt die lokale Topographie das Radfahren: Die Höhendifferenz zwischen der Talstadt und den auf den umliegenden Anhöhen liegenden Ortsteilen beträgt ca. 150 Meter und es gibt im Stadtgebiet einige Strecken mit deutlich über 10 Prozent Steigung.
Diesen widrigen Verhältnissen zum Trotz wird in Tübingen seit jeher erstaunlich viel Rad gefahren. Dies mag einerseits mit der Aufgeschlossenheit in ökologischen Fragen zu tun haben; andererseits ist das Fahrrad schlichtweg das praktischste und schnellste Verkehrsmittel in der Innenstadt.
Mit dem Siegeszug der E-Mobilität (Pedelecs) haben die Berge längst ihre Schrecken verloren. Und seit 2020 fließt deutlich mehr Geld in die Tübinger Rad-Infrastruktur: ca. 7 Mio. Euro pro Jahr, im Vergleich zu 0,5 bis 0,8 Mio. Euro pro Jahr in den 10 Jahren davor. Verantwortlich hierfür ist die Umsetzung zahlreicher wegweisender Projekte.
Dennoch ist offensichtlich, dass die Infrastruktur für den Radverkehr noch weiterer Verbesserungen bedarf.
Die Radwegesituation ist dem hohen Verkehrsanteil nach wie vor nicht angemessen: Es gibt nur vereinzelt durchgängige Hauptachsen für den Radverkehr; von einem Radwegenetz kann bislang keine Rede sein. Zahlreiche Radwege sind kurz, zu schmal, nicht miteinander vernetzt und enden in Fußwegen mit „Radfahrer frei“, unvermittelt auf der Fahrbahn oder vor Fußgängerampeln ohne entsprechende Signalisierung für Radfahrer. Immerhin gibt es mittlerweile mehrere Straßenabschnitte, die als Fahrradstraßen ausgewiesen sind und in den letzten Jahren wurden einige Kilometer Fahrrad-Schutzstreifen abmarkiert. Außerdem wurde Am Stadtgraben und in der vorderen Wilhelmstraße je eine Fahrspur für den Radverkehr umgewidmet - insgesamt ist aber immer noch "Luft nach oben"...
Um jeden Quadratmeter aber, der dem Autoverkehr zugunsten von Radlern und Fußgängern abgerungen werden soll, wird in Tübingen ein erbitterter Kampf geführt. Nirgends hat sich dies so eindrucksvoll gezeigt, wie am Beispiel des rund 30 Jahre andauernden Kampfes um eine autofreie Mühlstraße. Während des Neubaus der Steinlachbrücke wurde diese zunächst testweise in beide Richtungen für den motorisierten Individualverkehr gesperrt. Im Januar 2023 hat der Gemeinderat schließlich beschlossen, dauerhaft die Sperrung für den Autoverkehr beizubehalten. Denn diese Lösung hat sich äußerst gut bewährt: Auf der Mitte der Neckarbrücke wurden separate Radspuren markiert und eine veränderte Ampelschaltung gibt den Bussen bergauf einen Vorlauf, so dass die Radler ohne Busse im Nacken weitgehend ungestört die Mühlstraße hinauf radeln können ohne zwischen Gehweg (“Radfahren erlaubt”) und Fahrbahn über einen äußerst sturzgefährdenden Absatz hin und her wechseln zu müssen.
Das Fahren in der Fußgängerzone ist, mit Ausnahme der Kornhausstraße, untersagt und wird auch überwacht.
Insgesamt entstehen in Tübingen drei neue Radwegbrücken , die aus einem vom Bund aufgelegten Sonderprogramm gefördert werden, und die an Engpässen und umwegigen Routenführungen Entlastung bringen sollen. Die Radbrücken “Mitte” und “Ost” sind mittlerweile fertig gestellt; die Radbrücke “West” ist noch im Bau. Außerdem soll das “blaue Band”, ein geplanter, vier Meter breiter, gegenläufiger Radweg zwischen Steinlachunterführung und künftiger “Radbrücke West” für eine nachhaltige Verbesserung der Radweg-Situation sorgen. Das “blaue Band” soll auch Teil des geplanten Rad-Schnellwegs Rottenburg – Tübingen – Reutlingen werden. Da diese Baumaßnahmen von enormer Bedeutung für Tübingens Radverkehr sind, werden sie in ihrer Gesamtschau von OB Palmer gerne auch als “Superradwegenetz” bezeichnet.
Winterdienst: Die Räumung der Radwege bei Schnee und Eis war bislang keineswegs zufriedenstellend und erfolgte erst mehrere Tage nachdem alle wichtigeren Straßen geräumt waren. Erfahrungen beim letzten Wintereinbruch haben jedoch gezeigt, dass der Räumplan für die wichtigsten Radweg-Verbindungen nunmehr meist zügig abgearbeitet wird. Auch wurde die Wichtigkeit dieses Themas bei der Planung der neuen Radwegebrücken bedacht, indem alle drei mit einer Heizmöglichkeit bei Frost ausgestattet werden: Eine durchaus sinnvolle Maßnahme, da damit auch außerhalb der Räumzeiten auf den teilweise abschüssigen Brücken für mehr Sicherheit für die Radelnden gesorgt werden kann, und die Beschädigung der Brücken durch Streusalz vermieden wird. Die Radbrücke über die Steinlach war somit die erste beheizbare Fahrradbrücke in Deutschland.
Die Beschilderung wurde in den letzten Jahren sukzessive verbessert, wenngleich Schilder im einen oder anderen Fall leicht zu übersehen sind, da sie ungünstig angebracht wurden (zu hoch oder zu viel "Schilder-Konkurrenz"). Die Ampelschaltungen sind in der Regel nicht auf den Radverkehr abgestimmt.
Positiv lässt sich hervorheben, dass die meisten Einbahnstraßen in Gegenrichtung für den Radverkehr freigegeben sind (“unechte Einbahnstraßen”). Es gibt zahlreiche Abstellanlagen mit sicherer Anschließmöglichkeit in und um die Altstadt, sowie im Umfeld der Universität; allerdings wurde bislang die stetig steigende Zahl breiterer Lastenräder und Fahrräder mit Anhänger nicht genügend berücksichtigt. Auch die Zahl der Abstellplätze am Bahnhof war bislang völlig unzureichend und qualitativ größtenteils mangelhaft. Mit dem Umbau des Europaplatzes hat sich seit dessen Fertigstellung im Jahr 2023 die Situation dramatisch verbessert: In der Tiefgarage der neu errichteten Fahrradstation stehen nun, zusammen mit weiteren Abstellanlagen im Bahnhofsumfeld, rund 2000 Fahrradstellplätze zur Verfügung. Auch “Garderobenparken” ist gegen Gebühr möglich und die Plätze sind überwiegend überdacht; beides ist bei den immer höheren Anschaffungskosten für Fahrräder (Pedelecs!) sehr zu begrüßen. Fast schon müßig zu erwähnen, dass mit der Entlastung der Situation am Hauptbahnhof eine seit Jahrzehnten formulierte Forderung des VCD erfüllt wird.
Zur Überwindung der Höhendifferenzen kann auch die Mitnahmemöglichkeit im Stadtbus genutzt werden. Allerdings gibt es größtenteils tageszeitliche Einschränkungen und keine Mitnahmegarantie (Rollstühle und Kinderwagen haben natürlich Vorrang), so dass diese Möglichkeit nur bedingt Wirkung entfalten kann.
Derzeit erstellt die Stadt Tübingen mit breiter Bürgerbeteiligung das “Radverkehrskonzept 2030”, um Rad fahren in Tübingen durchgängig sicher, attraktiv und komfortabel zu machen und ein lückenloses Radverkehrsnetz zu schaffen. Der VCD ist zudem an der städtischen “AG Rad” beteiligt.
Das Radwegenetz im Kreis Tübingen kann insgesamt als gut bezeichnet werden. Eine mehrere Kilometer lange Radweg-Lücke im oberen Neckartal, welches für den Radtourismus einen hohen Stellenwert hat, wurde nach endlosen Jahren der Diskussion und der Planung 2020 endlich geschlossen.
Die Radwegführung erfolgt überwiegend auf landwirtschaftlichen Wegen mit den dadurch bedingten Vor- und Nachteilen: Zwar ist positiv hervorzuheben, dass die Wege fast durchgängig asphaltiert sind, aber häufig werden sie von eiligen Autofahrern als Abkürzungs-/Ausweichstrecken missbraucht. Auch die Verschmutzung durch landwirtschaftliche Fahrzege stellt, vor allem im Herbst und Winter, ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar.
Außerdem führen die Wege häufig an viel befahrenen Straßen entlang, was ihre Attraktivität in Folge von Lärm, Abgasen und Blendung bei Dunkelheit deutlich verringert. Das kritisiert der VCD auch bei den vorliegenden Plänen des Radschnellwegs Rottenburg - Tübingen - Reutlingen, bei gleichzeitig hohen Kosten dieser neuen Verbindung.
Die Beschilderung ist mittlerweile als hervorragend zu bezeichnen: An wichtigen Kreuzungen befinden sich Wegweiser mit Ziel- und genauen Entfernungsangaben. Teilweise kommen sogar Zusatzsymbole zur Streckenbeschaffenheit zum Einsatz. Allerdings ist in einigen wenigen Fällen die gewählte Routenführung nicht nachvollziehbar.
In den Städten Rottenburg und Mössingen ist die Radinfrastruktur - unter Berücksichtigung der Stadtgröße und Bedeutung des Radverkehrs - vergleichsweise gut. Positiv hervorzuheben ist, dass im Rottenburgischen zahlreiche Radwege mit reflektierenden Seitenstreifen versehen wurden, was die Orientierung bei Dunkelheit - und damit das Alltagsradeln - enorm erleichtert und sicherer macht. Inzwischen wurde diese einfache und kostengünstige Sicherheitsmaßnahme vereinzelt auch von der Stadt Tübingen außerorts umgesetzt.
Stand: 01/24