Baden-Württemberg

Der VCD beobachtet und kommentiert verkehrspolitische Entscheidungen, mischt sich mit eigenen Forderungen und Konzepten in die politische Debatte ein und veranstaltet Aktionen und Kampagnen für ein Umdenken von Staat und Gesellschaft.

Verkehrspolitik
Pforzheim/Enz

Offener Brief des VCD Pforzheim/Enz zum Lärmaktionsplan der Stadt Pforzheim

In einem offenen Brief an den Oberbürgermeister, die Fachbürgermeisterin und die Fraktionsvorsitzenden im Gemeinderat der Stadt Pforzheim empfiehlt der Vorsitzende des VCD-Kreisverbandes Pforzheim/Enz, Matthias Lieb, den Lärmaktionsplan in der Fassung vom 14.07.2020 zu beschließen.

Herrn Oberbürgermeister Peter Boch
Frau Bürgermeister Sibylle Schüssler,
Damen und Herren Fraktionsvorsitzende im Pforzheimer Gemeinderat
 

13. Dezember 2020

Lärmaktionsplan Pforzheim - Beschlussfassung

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Boch, sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Sibylle Schüssler, sehr geehrte Damen und Herren Fraktionsvorsitzende,

auf der Gemeinderatssitzung am 15.12. steht zum wiederholten Male die Beschlussfassung über den Lärmaktionsplan auf der Tagesordnung.

Angesichts der bisherigen Diskussion möchten wir auf die gesetzlichen Grundlagen der Lärmaktionspläne hinweisen: Es geht um den Schutz der Gesundheit der betroffenen Bürger vor zu hohen Lärmbelastungen. Deshalb appellieren wir an Sie, den Lärmaktionsplan in der am 14.07.2020 vorgestellten Fassung zu beschließen.

Bei 125.000 Einwohnern gibt es 35.287 Lärmbetroffene über 55 dB(A) LDEN und 27.140 Betroffenen über 50 dB(A) LNight. – d.h. rund 30 Prozent der Einwohner leider unter zu hohen Lärmbelastungen, welche ganz überwiegend vom Straßenverkehr resultieren.

Lärmbelastungen oberhalb von 65 dB(A) am Tag und 55 dB(A) in der Nacht liegen in einem gesundheitskritischen Bereich. Daher sind die Bereiche mit Lärmbelastungen über 65 dB(A) LDENund 55 dB(A) LNight einer qualifizierten Lärmaktionsplanung zu unterziehen und Maßnahmen – auch verkehrsrechtlicher Art – zur Minderung der Lärmbelastung umzusetzen. Ein vordringlicher Handlungsbedarf zur Lärmminderung und zur Verringerung der Anzahl der Betroffenen besteht zudem in Bereichen mit sehr hohen Lärmbelastungen jenseits des Schwellenwertes der Gesundheitsgefährdung über 70 dB(A) LDEN und 60 dB(A) LNight, der in Pforzheim für mehr als 7.000 Betroffene überschritten ist.

Verwaltung und Gemeinderat sind in der Pflicht, nicht nur bei Corona, sondern auch beim Lärm den Gesundheitsschutz der Bevölkerung sicherzustellen. Hierfür liegt seit Sommer ein Lärmaktionsplan vor, der konkrete lärmmindernde Maßnahmen vorsieht, die kurzfristig umgesetzt werden können.

Die Stadtverwaltung hat nun einen „Kompromiss“ eingebracht, der die Lärmbelastung der betroffenen Straßen gerade nicht reduziert, indem dort keine Geschwindigkeitsbeschränkungen angeordnet werden. Vielmehr soll für 2,2 Mio. € Flüsterasphalt zur Lärmminderung aufgetragen werden.

Hier wundert sich der VCD als langjähriger Beobachter der Pforzheimer Verkehrspolitik nun nicht mehr:

Obwohl die Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen ohne finanziellen Aufwand seitens der Stadt (abgesehen von den Kosten für das Aufstellen der Schilder) wäre, soll zur Vermeidung dieser Geschwindigkeitsbeschränkungen für 2,2 Mio. € Flüsterasphalt aufgebracht werden. Und das in einer Stadt, die für Bäder, Radverkehr und ÖPNV kein Geld hat. Heute, am 13.12.2020, wurden die Fahrpreise im ÖPNV weit überdurchschnittlich erhöht (die Tageskarte in Pforzheim kostet 5,70 €, in Stuttgart 5,20 €) während Autofahrer mit der Brötchentaste kostenlos in der Innenstadt parken dürfen. Beim Radverkehr trägt Pforzheim seit Jahren die rote Laterne.

Die Stadt, die 2009 einen Verkehrsentwicklungsplan aufgestellt hat mit dem Ziel den als zu dominierend betrachteten motorisierten Individualverkehr von damals 58% wieder auf den Stand von 1990 (50%) zu reduzieren, hat in den vergangenen 10 Jahren nichts Substantielles zur Attraktivierung des Radverkehrs und des ÖPNVs umgesetzt. Umgesetzt wurde einzig mit hohem finanziellem Aufwand der Bau des Innenstadtrings und es ZOBs, so dass die Busse dort besser abgestellt werden können. Früher waren die Busse in der Stadt mit Fahrgästen unterwegs: Gab es in den 1990er Jahren noch einen 10-Minuten-Takt, fahren heute die Busse des Stadtverkehrs im 15- oder 20-Minuten-Takt. Entsprechend der gesunkenen Attraktivität des ÖPNVs hat sich der motorisierte Individualverkehr weiter auf 61% erhöht. Mit der Auslagerung der Verantwortung für den ÖPNV auf den eigenwirtschaftlich agierenden RVS spart die Stadt jährlich 5-10 Mio. €, leider wurden diese Einsparungen nicht in bessere Rahmenbedingungen für den ÖPNV oder den Radverkehr, sondern in den Autoverkehr investiert.

Die Folge dieser autozentrierten städtischen Verkehrspolitik ist nun eine flächendeckende Überschreitung der Lärmgrenzwerte an fast allen Straßen, die ein flächendeckendes Tempolimit (Tempo 30 oder auf Vorrangstraßen Tempo 40) erfordern. Hätte man die Ziele des Verkehrsentwicklungsplans erreicht, wäre der Autoverkehr nicht mehr so dominierend. Damit wären auch die Lärmgrenzwerte vermutlich nicht überschritten und bräuchten zumindest aus Lärmschutzgründen keine Geschwindigkeitsbeschränkungen angeordnet werden.

Statt nun diese Geschwindigkeitsbeschränkungen als Folge der Zielverfehlung aus dem Verkehrsentwicklungsplan zu akzeptieren, verweigern sich wesentliche Teile des Gemeinderates weiterhin dem Lärmschutz, sondern bestehen auf Tempo 50, was zu keiner Lärmminderung führt.

Mit dem Beschlussvorschlag der Stadtverwaltung, 2,2 Mio. € außerplanmäßig für Flüsterasphalt ausgeben zu wollen, wird nochmals bestätigt, dass nur für den ÖPNV und den Radverkehr kein Geld da ist, für den Autoverkehr sehr wohl!

Es stellt sich für den VCD die Frage, wie ein Gemeinderat, der sich schon beim Gesundheits-schutz (Lärmschutz) seiner Bürger im Wege steht, denn die Anforderungen des Klimaschutzes angehen möchte.

Zur Einhaltung der Klimaschutzziele im Verkehrssektor ist bis 2030 eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen im ÖPNV, eine massive Ausweitung des Radverkehrs und eine Reduktion des Autoverkehrs in den Städten um rund 1/3 nötig. Die weiteren, erst vor wenigen auf EU-Ebene beschlossenen weiteren Verschärfungen der Klimaschutzziele sind dabei noch nicht berücksichtigt.

Wir empfehlen Ihnen, einen Blick auf Freiburg zu werfen und zu schauen, wie dort Verkehrspolitik betrieben wird. Die Stadt hat gerade einen Brief an den Bundesverkehrsminister geschrieben mit der Bitte, flächendeckend Tempo 30 einführen zu können, um die Lebensqualität in der Stadt zu erhöhen (s. Anlage). Auch hinsichtlich der Radverkehrs und der ÖPNV-Förderung könnte sich Pforzheim an Freiburg ein Vorbild nehmen.

Zusammengefasst empfehlen wir der Verwaltung und dem Gemeinderat der Stadt Pforzheim, den Lärmaktionsplan in der ursprünglichen Fassung zu beschließen und zukünftig den Radverkehr und den ÖPNV tatsächlich zu fördern, statt nur drüber zu reden. Mit den 2,2 Mio. €, die beim Flüsterasphalt gespart werden, könnte ein Schub beim Radverkehr, aber auch beim ÖPNV-Ausbau erfolgen.

Nur so kann es gelingen, Pforzheim zu einer lebenswerten, zukunftsfähigen Stadt umzugestalten und den Eindruck einer „Failed City“ abzulegen.


Mit freundlichen Grüßen
Matthias Lieb

Anlage: Brief Stadt Freiburg zu Tempo 30 und deren Pressemittelung

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