Baden-Württemberg

Der VCD beobachtet und kommentiert verkehrspolitische Entscheidungen, mischt sich mit eigenen Forderungen und Konzepten in die politische Debatte ein und veranstaltet Aktionen und Kampagnen für ein Umdenken von Staat und Gesellschaft.

BW, Verkehrspolitik
Landesverband BW

Offener Brief an Ministerpräsident Kretschmann: Corona-Pandemie und Konjunkturprogramme in der Mobilitätsbranche

Nach Ansicht des ökologischen Verkehrsclub VCD widerspricht der Vorschlag einer Autokaufprämie der Klimapolitik in Baden-Württemberg und geht damit in die falsche Richtung.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,

infolge der Corona-Pandemie leidet die Mobilitätsbranche unter der schwersten Krise seit Jahrzehnten. Der öffentliche Verkehr mit Bus und Bahn hat einen dramatischen Fahrgastrückgang und hohe Einnahmeverluste zu verkraften, auch Autoindustrie und Fluggesellschaften stehen vor gewaltigen Herausforderungen.

In dieser Situation schlagen Sie zusammen mit den Ministerpräsidenten Söder aus Bayern und Weil aus Niedersachsen eine reine Kaufprämie für die Autoindustrie vor. Nach Ansicht des ökologischen Verkehrsclub VCD widerspricht der Vorschlag der Klimapolitik in Baden-Württemberg und geht damit in die falsche Richtung.

Sofern die Politik der Ansicht ist, dass es Konjunkturprogramme bedürfe, um rasch aus der wirtschaftlichen Krise zu kommen, sollten diese Programme eine klare Klimakomponente beinhalten. Eine pauschale Förderung des Autokaufs würde den Klimaschutz, dem sich gerade Ihre Landesregierung besonders verpflichtet fühlt, weiter zurückwerfen.

Obwohl es in Baden-Württemberg ein Klimaschutzgesetz gibt, wurden die Klimaziele im Verkehrssektor weit verfehlt. Im Vergleich zu 1990 hätten in Baden-Württemberg die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor bis 2020 um 20-25 Prozent reduziert werden sollen*, tatsächlich sind sie im Verkehrssektor um 13 Prozent gestiegen.**

Diese Ziele wurden überwiegend durch den motorisierten Individualverkehr und den Güterverkehr auf der Straße verfehlt, während im Schienenverkehr die CO2-Einsparungen erreicht wurden. Beim Bau der Straßenfahrzeuge ist dabei festzustellen, dass die installierten Motorleistungen und die Gewichte der Fahrzeuge in den letzten Jahren immer stärker angestiegen sind ***. Hier nehmen gerade die Fahrzeuge aus baden-württembergischer Produktion eine unrühmliche Spitzenleistung ein, was Gewicht und Antriebsleistung und damit indirekt Energieverbrauch und Treibhausgasemissionen betrifft. Auch bei der Elektromobilität dominieren bei den hiesigen Herstellern schwere Fahrzeuge mit hoher elektrischer Antriebsleistung und schweren Batterien – das ist keine smarte Mobilität, sondern 1:1 die Fortsetzung der bisherigen nicht klimafreundlichen Modellpolitik, jetzt eben elektrisch.

Der voranschreitende Klimawandel ist auch bei uns in Baden-Württemberg immer häufiger erfahrbar. Die Wetteraufzeichnungen in diesem Jahr zeigen den zweitwärmsten Winter, einen überdurchschnittlich warmen März und April mit rund 40 Prozent weniger Regen im langjährigen Mittel auf. Trockenheit und immer häufiger Extremwetterlagen bedrohen auch die Verkehrswege, sei es durch Niedrigwasser die Binnenschifffahrt oder dass durch Hangrutsche und umgestürzte Bäume Straßen und Schienen unpassierbar werden.

Die Konjunkturprogramme, die jetzt in der Krise aufgelegt werden, dürfen somit nicht nur die Unternehmen retten, sondern müssen langfristig auch Klima und Umwelt schützen und eine Mobilitätswende einleiten.

Der Landesverband des VCD Baden-Württemberg schlägt deshalb nachfolgende Maßnahmen vor und bittet Sie und Ihre Regierung, diese in Ihren Diskussionen in Land, Bund und EU wohlwollend einzubeziehen.

Hochwertiger Öffentlicher Verkehr
Komfort, Wohlbefinden und Sicherheitsempfinden der Fahrgäste im öffentlichen Verkehr ist so anzuheben, dass die Attraktivität der ÖPNV-Nutzung gegenüber dem motorisierten Individualverkehr (MIV) deutlich steigt. Dies bedeutet besonders in der Hauptverkehrszeit eine geringere Auslastung als vor Corona. Dazu müssen die Takte von Bussen und Bahnen verkürzt und schnellstmöglich weitere Fahrzeuge angeschafft und Linien ausgebaut werden.

Dafür ist ein Investitionsschub für Bus und Bahn erforderlich
Mit einem Fahrzeugförderprogramm für E-Busse, O-Busse und Stadtbahnen lässt sich der öffentliche Verkehr bis 2030 vollständig elektrifizieren. Dadurch erhält auch die Fahrzeugindustrie einen kräftigen Schub an Aufträgen. Davon profitieren Bushersteller sowie Zulieferbetriebe für elektrische Komponenten in Baden-Württemberg (Bosch, Daimler, Voith, ZF u.a.).

Vor rund 100 Jahren war der öffentliche Verkehr in den Städten zu 100 Prozent elektrisch. Mit moderner Technik könnte jetzt der gesamte öffentliche Verkehr innerhalb weniger Jahre umwelt- und klimafreundlich umgestaltet werden und damit eine Vorreiterrolle für klimafreundliche Mobilität einnehmen.

Schiene stärken
Ein zusätzliches Landes-Ausbauprogramm für Schienenwege 2030 kann jetzt Beschäftigung sichern und sogar neue schaffen: Dazu muss es schnell beschlossen werden und langfristig angelegt sein, um Planungssicherheit zu geben. Der VCD fordert zusätzlich 100 Mio. Euro jährlich bis 2030 für die Elektrifizierung von Bahnstrecken, den zweigleisigen Ausbau und die Anschaffung von batterie-elektrischen bzw. Elektro-Triebwagen zur Ablösung der Dieseltriebwagen in Baden-Württemberg. Damit wird der Klima- und Umweltvorteil der Schiene weiter gestärkt.

Kurzfristig ÖPNV-Unternehmen unterstützen
Aktuell gilt es, die Betreiber von Bussen und Bahnen aus der Krise zu holen, in die sie durch den schlagartigen Rückgang der Fahrgastzahlen geraten sind. Mit hohem Kostenaufwand halten die Verkehrsbetriebe in der derzeitigen Situation einen Großteil ihres Angebots aufrecht, um den verbliebenen Fahrgästen genügend Abstand zu anderen zu ermöglichen.

Der VCD schlägt einen »ÖPNV Rettungsschirm« vor, durch die der Bund die Länder und Kommunen mit zunächst monatlich mindestens 200 Millionen Euro unterstützt. So kann ein Teil der fehlenden Einnahmen kompensiert werden, bis sich das Fahrgastaufkommen normalisiert hat.

Mehr Tempo beim Umbau der Autoindustrie
Konjunkturhilfen für die Autoindustrie sind zwingend mit umwelt- und klimafreundlichen Auflagen zu verknüpfen. Stand April 2020 beträgt der durchschnittliche CO2-Ausstoß von neuen Pkw 151 g/km****. Ab 2021 schreibt die EU einen Durchschnittswert von 95 g/km vor. Somit müssen Konjunkturhilfen zwingend dieses Ziel unterstützen, d.h. es dürfen nur Fahrzeuge gefördert werden, die höchstens 80 g/km CO2 ausstoßen und damit deutlich unter dem einzuhaltenden Grenzwert liegen. Ohne eine solche Vorgabe würden die Klimaschutz-Bemühungen der EU, damit auch des Bundes und des Landes konterkariert werden.

Die Hersteller in Baden-Württemberg könnten sich als Vorreiter für klimafreundliche Automobilität positionieren, wenn sie verstärkt auf Elektro-Kleinwagen statt auf große Elektrofahrzeuge mit hohem Gewicht setzen würden.

Im Strategiedialog Automobilwirtschaft mit Wissenschaft und Unternehmen sollte das Augenmerk auf Haltbarkeit und Recycling beim Fahrzeugbau gelegt werden. Die Wirtschaft muss dazu übergehen, Strategien zur Rücknahme und Verwendung von Gebrauchtteilen zu entwickeln. Der Wasserstoffantrieb als Alternative zu den Verbrennungsmotoren darf insbesondere für den Schwerlast- und Flugverkehr nicht aus dem Auge verloren werden und ist weiterzuentwickeln.

Der Ausbau der öffentlichen und gewerblichen Ladeinfrastruktur für E-Autos muss beschleunigt werden. Ladesäulen sollten dabei zielgerichtet und bedarfsorientiert errichtet werden. Für die Nutzung müssen einfache und einheitliche Zahlungssysteme angeboten werden. Die Elektromobilität braucht starke Stromnetze. Zeitgleich muss auch der Ausbau der erneuerbaren Energien vorangetrieben werden, der zuletzt ins Stocken geraten ist.

Eine Abschwächung der CO2-Grenzwertvorgaben, wie stellenweise gefordert, ist klimapolitisch kontraproduktiv und bestraft diejenigen Autohersteller, die bereits ihre Antriebe umstellen. Letztlich leistet eine Grenzwertabschwächung keinen Beitrag zum Ankurbeln der Konjunktur.

Mobilitätswende voranbringen
Die Corona-Krise zeigt die Bedeutung des Radverkehrs. Aktuell werden deutlich mehr (hochwertige) Fahrräder und Pedelecs gekauft.

Dies zeigt, wie wichtig eine gut ausgebaute Fuß- und Radverkehrsinfrastruktur für eine sichere, unabhängige und kostengünstige Fortbewegung ist. Zentral ist dabei der weitere Ausbau eines dichten, für alle Nutzergruppen sicheren und attraktiven Fuß- und Radwegenetzes. Der Ausbau von Radschnellverbindungen ist weiter mit hoher Intensität zu verfolgen. Zudem könnte ein spezielles Landesprogramm dem Umbau von Fahrspuren oder Parkstreifen zu Radwegen gewidmet sein.

Der VCD schlägt statt PKW-Kaufprämien ein “Startgeld grüne Mobilität” vor, dass für sämtliche Formen nachhaltiger Mobilität verwendet werden kann. Dies kann der Kauf einer BahnCard, eines ÖPNV-Abos, eines (E-)Fahrrads oder Lastenrads, von Car- und Bikesharing-Leistungen oder auch ein Zuschuss zur Anschaffung eines E-Autos sein. Von dieser Prämie würden Alle profitieren, besonders diejenigen mit geringerem Einkommen.

Fachkräfte für die Mobilitätswende
Angesichts absehbarer Einbrüche am Arbeitsmarkt sind Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen jetzt besonders wichtig. Neben Weiterbildungen wie dem/der Mobilitätsmanager*in muss dafür gesorgt werden, dass Universitäten und Fachhochschulen vermehrt Verkehrsplaner*innen bzw. Ingenieur*innen für die Umsetzung von Fuß- und Radverkehrsanlagen sowie Nachwuchs für die zunehmend anspruchsvollen und vielfältigen Berufsfelder bei der Bahn und im ÖPNV ausbilden. Schon vor der Corona-Krise behinderte der Fachkräftemangel den weiteren Ausbau des Bus- und Bahnverkehrs, Lokführer sind bundesweit Mangelware, aber auch Busfahrer fehlen.

Forschungsgelder für Nahmobilität
Subventionen für unrentable Flughäfen sollten gestrichen werden. Viele Flughäfen tragen sich bereits seit Jahren nur aufgrund hoher Zuschüsse von Kommunen und Land. Diese Mittel stehen in Konkurrenz zu anderen öffentlichen Mitteln. Sie sollten verstärkt für die Förderung neuer Mobilitätsangebote und des ÖPNV genutzt werden.

Forschungsgelder müssen künftig deutlich stärker in die Nahmobilität statt in Pkw- und
Straßenforschungsprojekte fließen.

Chancen der Digitalisierung nutzen
Die Digitalisierung ist eine Chance, Bus und Bahn, Bike-, Car- und Ride-Sharing- Angebote besser miteinander zu kombinieren. Bisher werden diese Möglichkeiten zu wenig genutzt. Eine landesweite App für den öffentlichen Nahverkehr sollte rasch umgesetzt werden, damit man bald mit einem System die verschiedenen Verkehrsträger und Verbindungen von einem Ort zum anderen einsehen und mit einem Klick buchen kann. Baden-Württemberg hat aktuell 22 Verkehrsverbünde, davon bieten acht Verbünde noch kein digitales Ticket an.

Eine gute ausgebaute digitale Infrastruktur trägt dazu bei, Verkehr zu reduzieren. Dies erleben gerade viele Menschen im Homeoffice – sie spüren dabei aber auch die digitalen Lücken. Damit mehr Menschen beruflich wie privat die Möglichkeiten des Internets nutzen können, braucht es einen schnelleren Ausbau der digitalen Infrastruktur. Der Aufbau eines deutschlandweiten Hochgeschwindigkeits-Datennetzes läuft viel zu langsam. Da die hierfür bereitgestellten Gelder zum Teil gar nicht abgerufen wurden, sollte das Land insbesondere Kommunen bei der Planung, Antragstellung und Umsetzung unterstützen.

Wer mobiles Arbeiten nutzt, statt täglich ins Büro zu fahren, trägt dazu bei, Verkehr zu reduzieren, gerade in den Hauptverkehrszeiten. Nicht alle Menschen können dies zu Hause umsetzen, da sie dort nicht die notwendigen Räumlichkeiten und technischen Ausstattungen haben. Mit einem speziellen Förderprogramm könnte das Land die Schaffung von wohnortnahen Coworking-Spaces in kleinen Städten und im ländlichen Raum unterstützen. Beispielsweise könnten hier ehemalige oder nur zum Teil ausgelastete Bahnhofsgebäude genutzt werden. Zugleich werden kleinere Zentren außerhalb der Großstädte weiterentwickelt.

Zur Digitalisierung gehört auch die Modernisierung der Leit- und Sicherungstechnik im Schienenverkehr. Für Stuttgart wurde jetzt das sog enannte “Starterpaket Digitale Schiene” beschlossen. Dies erfordert auch die Umrüstung der Fahrzeugflotte des Landes. Damit dieses Starterpaket seinen Nutzen voll ausspielen kann, sind auch die weiteren Strecken in Baden-Württemberg vorrangig auf ETCS umzurüsten. Gerade im ländlichen Raum könnte damit der Modernisierungsrückstand im Eisenbahnnetz behoben werden.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, die Corona-Pandemie hat kurzfristig besonders im Verkehrssektor sehr vieles verändert und bestehende Gewohnheiten außer Kraft gesetzt. Das Land kann jetzt die Chance der Konjunkturprogramme nutzen, um noch energischer als bisher seine Klimaziele im Verkehr umzusetzen. Mit den oben genannten Vorschlägen könnte dies gelingen. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei den Verhandlungen auf Bundes- und Landesebene.

Mit freundlichen Grüßen,
VCD Landesverband Baden-Württemberg e.V.

Matthias Lieb           Ute Zedler
Vorsitzender             stv. Vorsitzende

Hinweise:
* Beschluss Ministerrat vom 7.2.2012
** Aktueller Monitoringbericht zum IEKK des Umweltministeriums BW
*** Neue PKW haben im Schnitt heute 158 PS, zum Vergleich hatte ein Schienenbus VT95 der Bundesbahn in den 1950er Jahren 150 PS bei 60 Sitzplätzen
**** KBA-Bericht April 2020

 

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